Rede zur Gedenkveranstaltung zum Anschlag in Halle

Redebeitrag für das Römerbergbündnis

von Philipp Jacks, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Frankfurt am Main

zur städtischen Gedenkveranstaltung anlässlich des Anschlags von Halle

13. Oktober 2019

Liebe Freundinnen und Freunde,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Peter,
sehr geehrter Herr Grünbaum,

wir sind heute hier, um unser Mitgefühl und unsere Solidarität zu zeigen. Aber Solidarität darf nicht nur Selbstzweck, nicht nur Ritual sein. Ohne Handeln bleibt sie wirkungslos. Es ist wichtig, dass jeder mit der Solidarität bei sich selbst beginnt. Wir müssen den Mut haben, zu widersprechen, wenn öffentlich judenfeindliche und menschenfeindliche Hetzreden im Bekanntenkreis gehalten werden. Es geht nicht um Juden oder Ausländer. Es geht um die Würde des Menschen, es geht um die Demokratie, es geht um uns Alle! Jüdisches Leben ist erst dann sicher, wenn alle Demokraten begreifen, dass auch sie gemeint sind.

Die Stabilität unserer Demokratie ist in Gefahr. Wir alle sind gefordert. Es gibt drei Kernthemen an denen sich der Kampf zwischen Demokratie und weltweitem Unrechtsregime entscheiden wird: die gerechte Verteilung des Reichtums, der Klimawandel und die Überlegenheitsgefühle von Einzelnen und Gruppen über andere Menschen. Wir alle sind aufgerufen, uns in unserem Alltag der menschenfeindlichen Bedrohung entgegenzustellen. Im Verein, im Beruf, in der Familie. Wir müssen in der Praxis um unsere Demokratie kämpfen.

Wir gedenken heute auch den beiden Todesopfern des Terroranschlags in Halle. Jana K. und Kevin S. wir sind mit unseren Gedanken bei den Angehörigen und den Schwerstverletzten, die diese schreckliche Tat zum Glück überlebt haben.

Im menschenverachtenden Weltbild des rechtsextremen Terroristen von Halle verbinden sich Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus. Daraus entsteht eine mörderische Ideologie. Genau diese Verbindung der drei selbstüberschätzenden, also chauvinistischen, Ideologien finden wir auch bei der AfD.

Die AfD hat zwar keinen offensichtlichen Antisemitismus in ihrem Programm und zeigt sich nach dem Anschlag in Halle unschuldig. Es führt aber kein Weg daran vorbei, die AfD und die neuen rechten Bewegungen als Teil des Problems zu sehen.

Erstens kultiviert die AfD Menschenhass. Menschen werden objektiviert und vor allem Minderheiten werden kollektiv negative Eigenschaften zugeordnet. Dieses Denken, diese Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, ist eine der Ursachen für den Hass und die Gewalt von Halle.

Zweitens toleriert und akzeptiert die AfD und die rechten Bewegungen in ihren Reihen Leute, Gruppen und Medien, die offen oder verdeckt Antisemitismus vertreten. Egal ob es um den angeblichen Bevölkerungsaustausch oder die Klima-Proteste geht: im antisemitischen Weltbild stehen immer im Geheimen agierende Kreise dahinter, die alles lenken und organisieren. Genutzt werden Codes wie „Globalisten“ oder einzelne, meist jüdische Namen wie „George Soros“. Man will nicht „Jude“ sagen, weil das die Ideologie zu offensichtlich machen würde. Die AfD weiß genau, dass sich Antisemitismus als verkürzte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen eignet. Und sie weiß auch, dass sie mit diesem uralten Mythos Massen emotionalisieren und mobilisieren kann.

Man kann es kaum glauben, aber viele Menschen hängen auch der Verschwörungsideologie an, dass es einen vermeintlich von Juden gesteuerten, gezielten Bevölkerungsaustauschs durch geplante Flüchtlingsbewegungen gäbe. Diese wahnwitzige Ideologie verbindet den Attentäter von Halle mit dem Attentäter von Christchurch und großen Teile der neuen rechten Bewegung – aber auch mit zahlreichen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Verschwörungsideologien haben immer eine große Nähe zu Antisemitismus, auch wenn sie nicht offensichtlich ist.

Wir brauchen daher dringend eine erweiterte Auffassung von dem, was Antisemitismus ist. Es ging und geht dabei um mehr als bloßen Judenhass. Es geht um die Auffassung, dass letztendlich alles Schlechte und Krisenhafte in der Welt auf die Figur des „Juden“ zurückzuführen sei.

Staat und Gesellschaft müssen nun endlich die längst bekannten Ursachen für die genannten Ideologien anerkennen und mit aller demokratischer Macht bekämpfen. Das was wir erleben sind weder Alarmzeichen, noch kann man diesen Terror als unvorstellbar bezeichnen. Die Bedrohung von Jüdinnen und Juden ist seit Jahren, Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten sehr real. 

Es reicht jetzt nicht mehr, sein Bedauern auszudrücken oder eine starke Demokratie zu beschwören: wir müssen die demokratische Kultur noch viel mehr als bisher auch kulturell und finanziell unterfüttern. Wir müssen Aufklärung und politische Bildung stärken, statt Antifaschisten zu Verfassungsfeinden zu erklären. Wir müssen Lehrerinnen und Lehrer stärker qualifizieren, um rechtsradikales Gedankengut zu erkennen und ernstzunehmen. Sie brauchen Ansprechpartner, die sie in schwierigen Situationen beraten. Wir dürfen die von unseren Großeltern tradierten Herrenwitze nicht mehr tolerieren und mit den Achseln zucken, vielleicht sogar mitlachen. Wir müssen klare Grenzen setzen: keine Toleranz den Intoleranten und den Chauvinisten! 

Wir stehen klar für das Existenzrecht und das Selbstverteidigungsrecht Israels. Und zwar nicht aufgrund der deutschen Geschichte, sondern aufgrund der jüdischen Geschichte! Juden werden seit Jahrhunderten als Minderheit verfolgt. Weltweit, mal mehr, mal weniger. Selbst jetzt, wo es endlich einen Staat gibt, in dem sie per Definition die Mehrheit stellen, werden sie nicht nur von ihren geographischen Nachbarn und nicht erst seit dem Tag der Staatsgründung bekämpft. Viele Menschen, auch und gerade viele Deutsche, kritisieren die israelische Regierung für Ihre Politik. Das muss auch zulässig sein. Aber die Kritiker müssen sich auch fragen, warum sie ausgerechnet die israelische Regierung für ihre Politik kritisieren! Es gibt 194 Länder weltweit, und es gibt wohl kaum ein Land, bei dem wir mit der Regierungspolitik vollständig einverstanden wären. Es gibt auch zahlreiche Länder, die in kämpferische Handlungen verstrickt sind. Warum also meinen manche, mit der Lösung des Nahostkonfliktes kehre der Weltfrieden ein? Liebe Leute, wenn ihr meint, Israel sei Schuld an den Konflikten der Welt, dann ist das Antisemitismus.

Antisemitismus ist bis in die Mitte der Gesellschaft weit verbreitet. Aktuellen Studien sprechen von 25-40 Prozent, besonders verbreitet ist der Israel-bezogene Antisemitismus. Ähnliche Anteile gibt es bei anderen rechtsextremistischen Einstellungen. Und zwar seit Jahrzehnten auf dauerhaft hohem Level. Mit der AfD haben diese Menschen nun eine Heimat gefunden und trauen sich, ihre bisher tabuisierten Ansichten wieder laut zu sagen. So richtig Entnazifiziert war Deutschland also nie, wir müssen jetzt mit allen demokratischen Mitteln endlich ernsthaft damit anfangen: und zwar bei den gesellschaftlichen und psychologischen Ursachen, nicht bei den Symptomen.

Den Täter als geisteskranken Einzeltäter zu beschreiben, wie es immer wieder zu gerne bei rechtem Terror geschieht, ist ein – wohlwollend gesagt – naiver Fehler. Alle diese Attentäter sind eingebettet in eine Ideologie, die sich bis in die Mitte der Gesellschaft ätzt. Fast allen Attentätern ist gemein, dass sie Männer sind. Wir müssen uns auch endlich mit Toxischer Männlichkeit beschäftigten und deren zerstörerische Kultur brechen. Vor diesem Hintergrund ist auch der Messermord in Bornheim vom Donnerstagabend kein tragischer Einzelfall mehr, keine Beziehungstat. Es ist wieder einmal ein Mann, der seine empfundene Demütigung in Überlegenheit projiziert und Probleme mit Gewalt lösen will. 

Ob man dies wie Adorno und Horkheimer als “Autoritären Charakter” bezeichnet, oder wie die moderne Soziologie als Toxische Männlichkeit: diese charakterliche Deformation ist die Ursache für nationalistisches, rassistisches, frauenfeindliches und antisemitisches Denken und die zwangsläufig daraus folgende Gewalt gegen die empfundenen Anderen.

Aber auch wir dürfen nicht denken, wir selbst seien gefeit gegen chauvinistisches Denken. Wie denken Sie über den Bettler an der Straße? Behandeln Sie die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft mit dem gleichen Respekt, wie die Menschen auf den höheren Sprossen der sozialen Leiter? Wie denken Sie über Klima-Aktivisten? Oder über SUV-Fahrer?

Auch wir dürfen die Schuld für die gesellschaftlichen Zustände nicht nur bei den anderen suchen. Die Politik muss nun schleunigst die Rahmenbedingungen für eine aufgeklärte, demokratische und gerechte Welt schaffen, aber auch wir müssen jeden Tag daran arbeiten.

Vielen Dank.